Wer ist beim klettern alles für olympia

  • E-Mail
  • Messenger
  • WhatsApp

Der Amerikaner Colin Duffy bei den Pan American Championships in Los Angeles 2020: Er gilt in Tokio als einer der Favoriten.

Der Amerikaner Colin Duffy bei den Pan American Championships in Los Angeles 2020: Er gilt in Tokio als einer der Favoriten.

Foto: Lucas W Webster / AP

Erstmals wird für Klettern olympisches Gold vergeben, der Wettbewerb läuft von Dienstag bis Freitag bei den Olympischen Spielen in Tokio. Aber der vielleicht beste Kletterer der Geschichte könnte die Goldmedaille verpassen.

Der Tscheche Adam Ondra, der schon im Vorschulalter in der Nähe von Brünn herumkraxelte, gilt als Topstar der Sportart. Er gewinnt regelmäßig bei den Weltcups und eröffnete 2017 in Norwegen* die damals härteste Sportkletterroute der Welt. Trotzdem könnte es auf der ganz großen Bühne knapp für ihn werden, weil er in einer Teildisziplin, die bei Olympia gefragt ist, stark unterlegen ist.

Das zumindest legt eine Analyse der Kletterdatenbank »The Crag « nahe, die dem SPIEGEL exklusiv vorliegt. Dabei werden Informationen zu fast einer Million Routen aus aller Welt sowie die Wettbewerbsergebnisse vieler Profis ausgewertet.

Das Ergebnis: Ondra wird nur ganz knapp vorn liegen (48 Punkte), gefolgt von dem Japaner Tomoa Narasaki (50 Punkte) und Colin Duffy (USA/60 Punkte). Eigentlich müsste Ondra deutlicher dominieren. Doch sein Sport hat sich dem Prinzip des Höher, Schneller, Weiter der Spiele unterworfen.

Adam Ondra bouldert sich zu Gold beim Sport Climbing IFSC World Cup (2021)

Adam Ondra bouldert sich zu Gold beim Sport Climbing IFSC World Cup (2021)

Foto: Fabrice Coffrini / AFP

Das olympische Klettern setzt sich zusammen aus drei Unterdisziplinen:

  1. aus dem klassischen Vorstiegsklettern mit Seil, der eigentlichen Stärke von Ondra,

  2. aus dem Bouldern, wo eher der japanische Konkurrent Tomoa Narasaki mit seinen akrobatischen Sprüngen als Favorit gilt,

  3. aus dem Speedklettern, bei dem eine seit Jahren unverändert gebliebene, 15 Meter hohe Standardroute mit 18 Griffen durchstiegen wird, oft in einem irrwitzigen Tempo von weniger als sechs Sekunden

Doch ausgerechnet in dieser banalen Rennübung schneidet Ondra als Großmeister der Taktik und Technik relativ schwach ab, was ihn viele Punkte kosten dürfte. »Gerade das Speedklettern ist extrem abhängig von kleinen Zufällen, man kann leicht mal abrutschen und ins Seil fallen, das versaut das Ergebnis total«, sagt Heiko Wilhelm, ein Trainer der österreichischen Kletter-Nationalmannschaft.

Speedkletterduell in Moskau (IFSC Climbing European Continental Championships, 2020)

Speedkletterduell in Moskau (IFSC Climbing European Continental Championships, 2020)

Foto: SERGEI ILNITSKY/EPA-EFE/Shutterstock

Von Anfang an wurde das Speedklettern daher heftig kritisiert als unwürdiges Spektakel für die Fernsehquote, ein bisschen so, als müssten sich Tennisprofis durch Topfschlagen qualifizieren.

»Man hetzt an einer 15 Meter hohen Wand hoch wie ein Eichhörnchen oder ein Affe«, meckert zum Beispiel die südtiroler Bergsteigerlegende Reinhold Messner. Auch die britische Profikletterin Shauna Coxsey findet das olympische Klettern eigenwillig: »Das ist so, als würde man Usain Bolt bitten, erst einen Marathon zu absolvieren und dann einen Hürdenlauf.«

Bei den Frauen allerdings scheint die Kombination weniger Fragen aufzuwerfen. Dort dominiert die Slowenin Janja Garnbret klar, mit guten Leistungen in allen drei Unterdisziplinen. Das ergibt die Datenanalyse von »TheCrag«, die von dem Datenspezialisten Dean Scarff durchgeführt wurde.

Scarff ist ein Kletterer aus Australien, der hauptberuflich für Google arbeitet. Er prognostiziert folgendes Ergebnis für den Frauenwettkampf bei Olympia:

Gold: Janja Garnbret (Slowenien/17 Punkte), Silber: Miho Nonaka (Japan/36 Punkte), Bronze: Brooke Raboutou (USA/54 Punkte).

Die amtierende Weltmeisterin Janja Garnbret aus Slowenien im Finale bei der Sportkletter-WM (Tokio 2019)

Die amtierende Weltmeisterin Janja Garnbret aus Slowenien im Finale bei der Sportkletter-WM (Tokio 2019)

Foto: Jas C. Hong DPA

Datenbanken wie »TheCrag « oder die Konkurrenz von »www.8a.nu « oder »mountrainproject.com « durchleuchten den Klettersport genauer denn je, und eine neue Generation von Forschenden mischt die Sportwissenschaft auf.

An der Sporthochschule in Köln zum Beispiel befindet sich ein durchdigitalisiertes Kletterlabor mit »berührungssensitiven Griffen«, die exakt vermessen, wann und wie Kletternde sich daran festklammern. »Climbing to Yourself « heißt das Projekt der Sportpsychologin Lisa Musculus, die für ihre Doktorarbeit die Bewegungsmuster von Kindern und Jugendlichen untersucht hat.

Vor allem im Bouldersport, also dem akrobatischen Klettern in niedriger Höhe und ohne Seil, werde die mentale Komponente immer wichtiger, sagt sie. Gerade in den Kletterhallen von Tokio gibt es viele Routen, die futuristisch und experimentell angelegt sind, mit Sprüngen und Balancepassagen, die ein wenig an urbane Sportarten wie Parkours erinnern.

Zur körperlichen Kraft kommt zunehmend auch die mentale Kreativität hinzu, hat Musculus in ihrem Kölner Kletterlabor festgestellt: Wer eine Bewegung vor dem inneren Auge als »kinästhetische Vorstellung« sieht, ist im Vorteil. Klettersport als Denksport.

Bouldern bei Fontainebleau in Frankreich (2012)

Bouldern bei Fontainebleau in Frankreich (2012)

Foto: Tobias Hase/ picture alliance / dpa

Die Digitalkletterwand von Lisa Musculus ist nicht die Ausnahme, sondern fast schon die Regel im Leistungssport.

»Kraftolizer « heißt zum Beispiel eine Art intelligente Klimmzugstange, die die Arm- und Fingerkraft von Kraxlern vermisst, um aufgrund der Daten Defizite wegzutrainieren. Auch der deutsche Profi Alex Megos , der in Tokio neben Ondra zu den Favoriten zählt, hat damit trainiert.

Im Lauf- Ruder- oder Radsport sind derlei Methoden schon lange im Einsatz, doch das Klettern galt lange Zeit als subversiver Antisport, als bewusster Gegenentwurf zur vereinsmäßigen Durchdisziplinierung.

»Klettern ist aufsässige Selbstverständlichkeit und Ausreißversuch aus sterilem Alltag ins Abenteuer«, sagte einst Wolfgang Güllich , ein langhaariger Athlet, der in den Achtzigerjahren das elegante »Freiklettern« ohne künstliche Hilfsmittel in neue Höhen trug.

Seit den Sechzigerjahren fühlten sich Sportkletterer eher der Gegenkultur verbunden, praktizierten Yoga, hörten Joplin, rauchten Joints. Dazu passte auch Güllichs Motto: »Man geht nicht nach dem Klettern zum Kaffeetrinken, Kaffeetrinken ist integraler Bestandteil des Kletterns.«

Güllich durchstieg die schwierigsten Routen seiner Zeit und starb mit nur 32 Jahren bei einem Autounfall. »Kein Um-die-Wette-Klettern! Wo man dem Gegner praktisch den Absturz wünschen müsste«, warnte er einst. Und würde sich wohl im Grabe umdrehen angesichts des Speedkletterns als TV-Belustigung.

Die Freizeitindustrie wittert das große Geschäft bei der Aufrüstung der Kletterhallen zu durchdigitalisierten Selbstvermessungsparcours. »Vertical Life « heißt zum Beispiel eine App, die die Klettermeter speichert und Kletterhallenbetreibern die zielgruppengerechte Planung für genau die Routen erlauben soll, die die Kunden wünschen, nicht zu schwer, nicht zu leicht. Die Kletterer werden in ein Ranking eingeteilt, wer die meisten Meter klettert, kriegt ein kleines Krönchensymbol, wie man es ähnlich von Apps aus dem Lauf- oder Radsport kennt. Und jede Route kann zu einer Kletter-Sprintstrecke umfunktioniert werden, vernetzt über Wifi, verbunden mit der Wettkampf-App.

Auch Mammut zieht nach, eine Traditionsfirma für Bergsteigerausrüstung. »Climbax « heißen zwei kleine Bewegungssensoren, die sich Kletterer ans Handgelenk hängen, um ihre Bewegungen zu vermessen und zu analysieren. Der sportliche Nutzen dürfte sich derzeit noch in Grenzen halten, aber die Selbstvermessung ist en vogue.

Kletternde können sich täglich neue Trainingsrouten anzeigen lassen, dann blinken an der Wand vor ihnen die passenden Griffe auf, angepasst an ihre Fitness, das zumindest verspricht die Firma Luxov  aus Paris, die auch bei den Olympischen Spielen Ausrüster ist. Die Griffe spüren und speichern die Bewegungen der Kraxler, die Routen werden zentral gesteuert. Einen größeren Kontrast zu Wolfgang Güllichs »Ausreißversuch aus sterilem Alltag« ist kaum vorstellbar.

»Absoluter Heldenmut im Namen der Nationen der Welt«

Schon einmal sollte der wilde Vertikalsport eingemeindet werden in das geordnete Schneller, Höher, Weiter der Olympischen Spiele. Vor einhundert Jahren wurde bereits ein erster Versuch gestartet.

Dem Gründer der Spiele, dem französischen Baron Pierre de Coubertin, lag der Bergsport besonders am Herzen, und 1924 vergab er bei den Winterspielen in Chamonix schließlich die erste Goldmedaille: an die Teilnehmer der Expedition 1922 zum Mount Everest, die allerdings gescheitert war.

Das Höhenbergsteigen lief damals als fast militärisch-streng durchorganisierte Großaktion ab, die Risiken waren gewaltig, die meisten Empfänger der Goldmedaille starben kurz vor oder nach der Vergabe.

Olympische Winterspiele 1936 (Garmisch-Partenkirchen)

Olympische Winterspiele 1936 (Garmisch-Partenkirchen)

Foto: teutopress / imago images

Dieser Leichtsinn wurde nicht als Problem gesehen, er wurde als Heroismus gefeiert. Coubertin lobte den »absoluten Heldenmut im Namen der Nationen der Welt.« Auch 1932 in Los Angeles und 1936 in Berlin wurde olympisches Gold an Bergsteiger verliehen. Dann kam der Zweite Weltkrieg, die Seilschaft aus Olympia und Klettern trennte sich wieder.

Wie eigensinnig die Kletterszene immer noch ist, zeigt die chaotische Vielzahl unterschiedlicher Bewertungssysteme für die Schwierigkeit von Routen: Über ein Dutzend gibt es. Die klassische Kletterroute »Adolf Rott Gedenkweg« in der Fränkischen Schweiz zum Beispiel ist nach der internationalen UIAA-Skala mit einer »6+« bewertet. Nach der australischen Skala entspräche das einer »18«, in Südafrika einer »19«, in Norwegen einer »6-«, in den USA einer 5.10a, in der Sächsischen Schweiz einer VIIc.

Teilweise müssen Kletternde sogar wissen, ob eine Route von einem Deutschen oder einem Schweden eingerichtet wurde, um den Schwierigkeitsgrad einordnen zu können. Fast scheint es so, als diene das Bewertungschaos dazu, eine Vergleichbarkeit zu verhindern.

»Immer wieder kommt es zu Streit, wie schwer eine Route ist«, erzählt Dean Scarff, der Datenbankspezialist aus Australien. Nun will er das Bewertungschaos mithilfe von Künstlicher Intelligenz bändigen: »GrAId« heißt sein KI-System, das die Daten der Plattform »Thecrag« auswertet, um eine globale Vergleichbarkeit herzustellen, eine Art Bewertungsesperanto.

Ein Kletterer beim Abseilen in Griechenland (2021)

Ein Kletterer beim Abseilen in Griechenland (2021)

Foto: DIMITRIS TOSIDIS / EPA

Rund 10.000 neue Routen werden in der Datenbank Woche für Woche eingetragen, wie viele Kletterrouten es weltweit gibt, weiß niemand, es könnten rund drei Millionen sein.

Dean Scarff freut sich, wenn seine Routenbewertungen korrigiert werden, er mag die »Falsifizierbarkeit« durch wissenschaftliche Methoden. Vor allem aber freut er sich über das Lob von eher vorsichtigen Kletterern, die Angst vor Stürzen haben.

Im Gegensatz zu herkömmlichen Bewertungen berücksichtige seine Methode die statistische Wahrscheinlichkeit für einen Sturz, so Scarff: »Es ist wichtig, dass wir offen sind für die unterschiedlichsten Kletterer, nicht nur für die Machos der alten Schule. Hier kann die Computertechnik helfen.« Seine Prognose für die Kletter-Goldmedaillen ist für den Australier jedenfalls eher ein Nebenprodukt.

Die KI-basierte Vereinheitlichung der Schwierigkeitsgrade könnte den weltweiten Kletterboom weiter anheizen. Die Mitgliederzahl des Deutschen Alpenvereins hat sich jedenfalls verdoppelt seit der Jahrtausendwende, auf heute mehr als 1,3 Millionen.

Auch das olympische Klettern dürfte den Trendsport noch populärer machen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version schrieben wir, dass Ondra die Route »Silence« 2020 eröffnete. Er eröffnete sie aber 2017. Wir haben das korrigiert.

Wer klettert für Deutschland bei Olympia?

Tritt für Deutschland im Klettern bei Olympia 2021 an: Jan Hojer.

Wer hat bei Olympia Klettern gewonnen?

Alberto Gines Lopez gewinnt Olympia-Gold im Sportklettern Der junge Spanier Alberto Gines Lopez gewinnt die erste Olympia-Goldmedaille in der Geschichte des Sportkletterns. Auf den Rängen zwei und drei folgen der Amerikaner Nathaniel Coleman sowie der Österreicher Jakob Schubert. Kronfavorit Adam Ondra belegt den 6.

Was bedeutet Lead beim Klettern?

Lead, also das Klettern mit Seil, wird auch als Vorstiegs- oder Schwierigkeitsklettern bezeichnet. Es ist die traditionellste Disziplin des Kletterns.

Welche Disziplinen gibt es beim Klettern?

Im internationalen Spitzensport wird in drei Disziplinen geklettert: Schwierigkeits- bzw. Lead-Klettern, Bouldern und Speedklettern.