Welche Bedeutung hat Florence Nightingale für die Pflege?

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Im Hof türmen sich Müllberge und Tierkadaver. Durch die Gänge läuft eine knöcheltiefe Brühe aus Fäkalien und Abwasser. Dicht gedrängt liegen in den Krankenzimmern stöhnende, ausgehungerte Soldaten auf Strohmatten, fiebrig und von Ungeziefer übersät, mit zerschossenen Gliedmaßen und verkrusteten Verbänden.

Ein bestialischer Gestank erfüllt die Luft im Militärkrankenhaus von Scutari. In diesem Vorhof zur Hölle fehlt es an allem, was Kranke gesund machen könnte: Verbandszeug, Lebensmittel, Kleidung, Seife, Handtücher, Nachttöpfe, sogar Betten. Die Kanalisation ist defekt, das Trinkwasser nicht sauber.

Mittendrin steht eine hübsche, resolute Frau, krempelt die Ärmel hoch und bestellt erst mal 300 Scheuerbürsten beim britischen Kriegsminister: Florence Nightingale, 34, ist wild entschlossen, dem Elend die Stirn zu bieten.

Sie hätte es so schön haben können, daheim in England, wo Dinnerpartys, Bälle und Verehrer auf sie warteten. Aber nein, ausgerechnet an den Bosporus zog sie es, einen der finstersten Orte des Krimkriegs. Hier sammelte Florence Nightingale praktische Erfahrungen, um das britische Lazarettwesen zu reformieren und die moderne, weltliche Krankenpflege zu begründen: einen Ausbildungsberuf, den es so vorher gar nicht gab.

Lieber Mathebücher als Puderdöschen

Denn in der Pflege arbeiteten bis dahin entweder entrückte Ordensschwestern oder verkommene Säufer, die ihre Patienten beklauten und sich prostituierten. Monster wie die fette, alte Sarah Gamp, eine vom britischen Autor Charles Dickensin grellen Farben skizzierte Krankenschwester.

Nightingale räumte auf damit - und legte den Grundstein für eine Profession, ohne die wir gerade in der Coronakrise ziemlich alt aussähen. Ihr zu Ehren ist der 12. Mai, ihr Geburtstag, heute der Internationale Tag der Pflege. Die Pionierin der modernen Krankenpflege beharrte auf Händewaschen und anderen Hygieneregeln, forschte über die Ausbreitung von Epidemien , erstellte Tabellen, reihte Zahlenkolonnen aneinander.

"Um die Gedanken Gottes zu verstehen, müssen wir Statistiken studieren, denn die sind die Maßeinheit seiner Absichten", lautete ihr Grundsatz. Dass sie schon als Teenager ihre Nase lieber in Mathebücher als in Puderdöschen steckte, lieber Krankenhäuser als Museen besuchte, sah ihre Mutter als Katastrophe.

Heirat? "Selbstmord"

Geboren wurde das Mädchen am 12. Mai 1820 bei der Hochzeitsreise ihrer Eltern nach Florenz und erhielt den Vornamen Florence. Die reiche Kaufmannsfamilie hatte ein eigenes Wappen, einen Stab von Bediensteten und glasklare Vorstellungen: Eine Frau durfte sich zwar bilden, sollte dann aber schleunigst heiraten, Kinder kriegen und die strahlende Hausfrau geben.

Ein Horror für Nightingale: "Ich kenne nichts, was der kleinlichen und zermürbenden Tyrannei einer guten englischen Familie gleichkommt", schimpfte sie 1852 in ihrer bitterbösen Abrechnung "Cassandra". Heirat bezeichnete sie als "Selbstmord" und verglich die Rechtlosigkeit der verheirateten Frau mit Folter: "Es ist so, als läge man auf dem Rücken, mit gefesselten Händen, und bekäme eine Flüssigkeit eingeflößt."

Foto:

histopics/ ullstein bild

Statt sich dem viktorianischen Ideal zu fügen, wollte Nightingale dahin, wo es wehtut: in die Kranken- und Armenhäuser. Gott höchstselbst habe sie zum Dienst an den Schwächsten berufen, lautete ihre Überzeugung. Als die Eltern sich ihrem Wunsch verweigerten, bekam die junge Frau Depressionen.

Entnervt gab der Vater nach und stattete seine Tochter mit einer jährlichen Leibrente von 500 Pfund aus - Nightingale war frei. Nach Kursen an der Düsseldorfer Diakonissenanstalt Kaiserswerth zog sie 1853 nach London, um dort als Oberin das Harley Street Hospital zu leiten. Im selben Jahr bracht der Krimkrieg aus, eine mörderische Materialschlacht.

Status als britische Nationalheilige

Bis 1856 kämpfte die schlecht ausgerüstete, von alten, unerfahrenen Generälen geführte britische Armee an der Seite des Osmanischen Reichs und Frankreichs gegen Russland. Menschenleben zählten nichts; die grauenvolle Schlacht um Sewastopol bezeichnete der deutsche Militärhistoriker German Werth als "Vorwegnahme von Verdun".

Zur Bedrohung durch neuartige Geschütze gesellten sich Cholera und Typhus: "Noch bevor der erste Schuss gefallen war, waren schon über 1000 Soldaten gestorben", schreibt die Historikerin Hedwig Herold-Schmidt in ihrer lesenswerten Nightingale-Biografie.

Welche Bedeutung hat Florence Nightingale für die Pflege?

Hedwig Herold-Schmidt

Florence Nightingale. Die Frau hinter der Legende. Portrait einer Vorkämpferin für Gesundheitswesen, Krankenpflege und Frauenrechte vor dem historischen Hintergrund des viktorianischen Zeitalters

Verlag: wbg Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG)

Seitenzahl: 320

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01.01.2023 21.19 Uhr

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Harsch geißelte die Presse, erstmals auf einem Schlachtfeld anwesend, die Defizite des britischen Militärs: "Man muss feststellen, dass die einfachsten Dinge fehlen", schrieb die "Times" am 12. Oktober 1854, "und dass Männer sterben müssen, weil das medizinische Personal der britischen Armee vergessen hat, dass man Verbandsstoff braucht, um Wunden zu versorgen."

Um das Desaster zu lindern, schickte Kriegsminister Sidney Herbert seine Freundin Florence Nightingale. Am 4. November 1854 erreichte die Britin mit 37 Gleichgesinnten Konstantinopel (heute Istanbul). Neben den entsetzlichen Zuständen musste Nightingale mit der Ablehnung des medizinischen Personals kämpfen: Männer, die sich nicht hinreinreden lassen wollten und sie als Spionin verdächtigten.

Die einfachen Soldaten indes vergötterten Nightingale, die ihnen zuhörte, ihren Sold in die Heimat schicken half, rund um die Uhr über sie wachte. "Wenn die Lady mit der Lampe in der Nacht durch die Krankensäle geht, dann drehen wir uns zur Wand und küssen die Mauerstelle, auf die ihr Schatten fiel", schrieb ein Patient an seine Familie.

Machtversessene Intrigantin?

Der Mythos der selbstlosen Lampen-Lady war geboren - und wurde in England bombastisch zelebriert: Rennpferde, Neugeborene, Schiffe wurden nach ihr benannt, Porzellanfiguren mit ihrer Silhouette verkauft, Gedichte und Bücher geschrieben. Eine regelrechte Florence-Manie brach aus.

Später aber schlug das Pendel in die andere Richtung aus - Historiker machten sich daran, die britische Nationalheilige vom Sockel zu fegen. Als lesbische Hypochonderin wurde sie beschrieben, ebenso als sexuell frustrierte Größenwahnsinnige, Frauenhasserin oder Rassistin.

Ein besonders vernichtendes Bild entwarf 1982 der australische Historiker Francis B. Smith - das einer machtversessenen Intrigantin mit völlig überschätzten Leistungen. Als "Racheengel" wiederum bezeichnete sie der Brite Hugh Small 1998: eine von Gewissensbissen zermarterte Frau, die angeblich das Leben Tausender Männer auf der Krim zu verantworten hatte.

Als "wahre Nightingale" brachten manche Historiker die Jamaikanerin Mary Seacole in Stellung, die sich ebenfalls im Krimkrieg engagiert hatte. "Good night, Florence", begleitete die "Washington Post" 2003 die Demontage des britischen Symbols.

Auch wenn Nightingale nie die gottgleiche Lebensretterin war, zu der sie im 19. Jahrhundert überhöht wurde: In Scutari leistete sie zweifelsohne Großes. In kürzester Zeit brachte sie die Wäscherei wieder in Gang, sorgte für Hygiene, frische Luft, gesunde Ernährung für die Soldaten.

Allein mit Kater "Bismark"

Zwar konnte Nightingale von Viren und Bakterien noch nichts wissen und hing der Miasmentheorie an, nach der Krankheiten durch giftige Dämpfe aus Erde oder Luft entstehen. Dennoch halfen ihre Maßnahmen 1855, die Todesrate infizierter Soldaten von 40 auf 2 Prozent zu senken. Zeitlos revolutionär bleibt zudem ihre konsequente Fixierung auf den Kranken: "Die körperliche Pflege, aber auch das psychische Wohlbefinden des Patienten standen in ihrem Handeln immer ganz oben", betont Medizinhistoriker Pierre Pfütsch von der Universität Mannheim.

Zurück in England machte Nightingale sich daran, die Daten aus dem Krimkrieg auszuwerten und Reformen voranzutreiben. Unablässig bombardierte sie Politiker mit Statistiken, Analysen, Vorschlägen. Und das zumeist vom Schlafzimmer aus: Im Krimkrieg hatte sich Nightingale mit der Infektionskrankheit Brucellose infiziert und verbrachte ihre zweite Lebenshälfte überwiegend im Bett, allein mit Dienern und Katzen, darunter dem weißen "Mr. Bismark". Die von ihr 1860 gegründete Nightingale School in London konnte sie daher nicht selbst leiten.

Ob ihr Leiden körperlicher oder psychischer Natur war, ob Nightingale nur in Ruhe arbeiten wollte? Fest steht, dass sie in ihren 90 Lebensjahren ungemein produktiv war: Rund 19.000 Briefe sind überliefert, ihre Bücher, Artikel und Schriften umfassen 16 dicke Bände. Einer der wichtigsten, bis heute gültigen Grundsätze von Florence Nightingale entstammt dem Nachruf auf die Pflegerin Agnes Jones von 1868:

"Pflege ist keine Ferienarbeit. Pflege ist eine Kunst und fordert, wenn sie eine Kunst werden soll, eine ebenso große Hingabe und Vorbereitung wie das Werk eines Malers oder Bildhauers. Denn was bedeutet die Arbeit an toter Leinwand oder kaltem Marmor im Vergleich zu der am lebendigen Körper, dem Tempel für den Geist Gottes?"

Wie bedeutend war Florence Nightingale für die heutige Pflege?

Zur Pionierin indes machte Florence Nightingale ihre Reform der Krankenpflege. Geprägt durch ihre Erfahrungen entwickelte die Britin ein eigenes, als Nightingale´sches System bezeichnetes Ausbildungsmodell und revolutionierte damit die Pflege im 19. Jahrhundert.

Warum wird Florence Nightingale als die erste pflegewissenschaftlerin bezeichnet?

Florence Nightingale wird rückblickend häufig als die erste Pflegewissenschaftlerin bezeichnet. Da sie sich nicht auf ihre eigene Erfahrung verließ, sondern die Statistik nutzte, um ihre Argumente zu untermauern, fanden ihre Berichte viel Aufmerksamkeit.

Was können wir von Florence Nightingale lernen?

Vor zwei Jahrhunderten wurde Florence Nightingale geboren, die Begründerin der modernen Krankenpflege. Die Statistikerin und Sozialreformerin setzte sich erstmals für Hygienestandards in der Krankenpflege ein und kämpfte für ein allgemeines Gesundheitssystem.

Wer hat die Pflege erfunden?

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich die Krankenpflege allmählich zu einem staatlich anerkannten Beruf. Mutige Pionierinnen wie Florence Nightingale und Agnes Karll waren maßgeblich daran beteiligt.