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Geschichte Rosa Luxemburg

Was „Freiheit der Andersdenkenden“ wirklich meint

Als erinnerungswürdig gilt die Revolutionärin Rosa Luxemburg heute wegen eines einziges Satzes. Aber der ist stets falsch verstanden worden. Denn eigentlich verachtete die Kommunistin die Demokratie.

Veröffentlicht am 25.01.2019 | Lesedauer: 4 Minuten

GERMANY - JANUARY 02: Marxist Revolutionnary (1871-1919), She Was Assasinated After The Spartakist Insurrection Failed In
Germany. (Photo by Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images) Getty ImagesGetty Images GERMANY - JANUARY 02: Marxist Revolutionnary (1871-1919), She Was Assasinated After The Spartakist Insurrection Failed In Germany. (Photo by Keystone-France/Gamma-Keystone via Getty Images) Getty ImagesGetty Images

Rosa Luxemburg (1871–1919) im letzten Jahrzehnt ihres Lebens

Quelle: Gamma-Keystone via Getty Images

Wer über den Berliner Rosa-Luxemberg-Platz geht, findet den Satz in Messinglettern seitlich der Bürgersteige in den Boden eingelassen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Diese Satz wird vor allem von linken Politikern gern zitiert, um Rosa Luxemburg als Vorbild für Toleranz und Demokratie zu charakterisieren. Nichts könnte falscher sein.

Rosa Luxemburg war gewiss keine Demokratin und ganz sicher nicht tolerant. In seiner Biografie nennt der Potsdamer Historiker Ernst Piper den Satz „zweifellos das berühmteste Zitat aus dem Werk von Rosa Luxemburg“. Darüber hinaus gilt aber auch: Es gibt vielleicht kein Zitat aus der deutschen Zeitgeschichte, der radikaler fehlinterpretiert worden ist.

UNSPECIFIED - CIRCA 1754: Rosa Luxemburg (1871-1919) Polish-born German revolutionary and
political agitator, addressing a meeting after the Second International Social Democrativ Congress, Stuttgart, 1907. Founder member with Karl Liebknecht of the KPD, the German Communist Party. (Photo by Universal History Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images

Rosa Luxemburg galt als exzellente Rednerin

Quelle: Getty Images

Denn Rosa Luxemburg war vor allem eine rücksichtslose Revolutionärin. Sie kämpfte 1918/19 mit ihrem Mittel, dem Wort, gegen die freie, gleiche und geheime Wahl zur deutschen Nationalversammlung und für eine „Diktatur des Proletariats“. Schon am 20. November 1918, der Kaiser war gerade erst seit elf Tagen gestürzt, positionierte sie sich im Leitartikel der „Roten Fahne“ unmissverständlich. Die Nationalversammlung sei „ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom ,einigen Volk‘, von der ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ des bürgerlichen Staates“.

Einen Monat später, am 23. Dezember 1918, wetterte sie ebenfalls im Blatt des bolschewistischen Spartakusbundes gegen den „parlamentarischen Kretinismus“ und schrieb weiter: „Die Nationalversammlung ist eine gegenrevolutionäre Festung, die gegen das revolutionäre Proletariat aufgerichtet wird. Es gilt also, diese Festung zu berennen und zu schleifen.“ Das waren nicht die Worte einer Demokratin.

Nach dem Beginn des sogenannten Spartakus-Aufstandes und der gewaltsamen Besetzung mehrerer Verlagshäuser einschließlich ihrer Druckereien im Berliner Zeitungsviertel durch den linksradikalen Mob forderte sie am 7. Januar 1919: „Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen.“ Rosa Luxemburg wollte den bolschewistischen Staatsstreich, nichts anderes.

Spartakus-Aufstand bricht in Berlin los

Am 5. Januar 1919 bricht in Berlin der sogenannte Spartakus-Aufstand aus, mit dem Kommunisten und linker Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) die Regierung stürzen wollen. Der Aufstand wird am 12. Januar 1919 niedergeschlagen.

Quelle: History-Vision

Zwei Tage später verlangte sie unter der Überschrift „Zu den Waffen!“ in kraftvollen Worten die „Abrechnung“ mit den Anhängern der Übergangsregierung, die anders dachten als Spartakus und die deutschen Bolschewiki. Und weil sie gerade dabei war, forderte Luxemburg gleich noch die „Liquidierung der USPD, die als Schutzwand der Ebert-Scheidemann fungiert“. Nicht einmal für die etwas weniger radikale sozialistische Konkurrenz brachte sie also Toleranz auf.

All diese Zitate verdrängen die Bewunderer Rosa Luxemburgs und all jene, die ihnen gedankenlos nachplappern – und zwar wegen eines einzigen Satzes, der zudem erst nach ihrem gewaltsamem Tod erstmals veröffentlicht wurde. „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“: Das klingt nach Toleranz, nach Pluralität. Gemeint war jedoch etwas völlig anderes.

Zudem hielt Rosa Luxemburg diesen Satz für ziemlich unbedeutend. Sie schrieb ihn als Randbemerkung ohne Zuordnung links außen auf das Manuskriptblatt 100 ihres unvollendeten Textes „Zur Russischen Revolution“, der erst 1922 veröffentlicht wurde. Worauf genau sich dieser Satz bezog, ist unklar.

Rosa Luxemburg Freiheit der Andersdenkenden

Das Zitat, das heute vor allem mit Rosa Luxemburg in Verbindung gebracht wird, war ihr nicht so wichtig: die Originalstelle aus dem Manuskript "Zur Russischen Revolution"

Quelle: Archiv Kellerhoff

Andere Randbemerkungen auf derselben Seite lauteten zum Beispiel: „Anarchie wird auch bei uns und überall unvermeidlich sein“ oder: „Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, dass sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren mussten und dass ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt.“

Im Haupttext standen auf dieser Seite Sätze wie: „Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung“. Mit Toleranz und Pluralismus jedoch passt „intensivste politische Schulung“ nun gar nicht zusammen.

Betrachtet man den Gesamtzusammenhang des Textes „Zur Russischen Revolution“, so stand für Rosa Luxemburg nicht das Ziel infrage, die „sozialistische Wirtschaft“, sondern lediglich die genaue Umsetzung, denn das Programm enthalte „nur wenige große Wegweiser“ meist „negativen Charakters“, wie sie schrieb: „Wir wissen so ungefähr, was wir zuallererst zu beseitigen haben.“ Und sie fügte an: „Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen.“

Press article about the assassination of Karl Liebknecht and Rosa Luxemburg, German revolutionary socialists (1919). (Photo by: Photo 12/UIG via
Getty Images) Getty ImagesGetty Images

Die Nachricht vom Mord an Liebknecht und Luxemburg wurde am 16. Januar 1919 auf Aushängen bekannt gemacht

Quelle: UIG via Getty Images

Ihre scharfe Gegnerschaft zur Demokratie rechtfertigte damals nicht und natürlich auch nicht ein Jahrhundert später den Mord an ihr (und genauso wenig den am noch radikaleren Karl Liebknecht). Als Vorbild allerdings taugt die Revolutionärin und Antidemokratin ebenso wenig – daran ändert auch das berühmte Zitat nichts.

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